Draußen hat es 36 Grad und in meinem Arbeitszimmer gefühlte 50 Grad. Der Ventilator läuft inzwischen in einer Lautstärke, da macht Musikhören keinen Spaß mehr. Aber der Mensch gewöhnt sich ja an alles, auch an die zukünftigen Klimakatastrophen-Standardsommer. Kommen wir wieder zum Punkt zurück, die Probleme der folgenden Generationen von Studierenden und letztendlich auch zukünftigen Arbeitnehmern. Wenn ich mir diejenige Klausur ansehe, die den Anstoß für den ersten Artikel dieser Reihe gegeben hat, dann fällt mir doch ganz stark auf, dass viele falsche Antworten auf das fehlende Abstraktionsvermögen der Klausurteilnehmer zurückzuführen waren, eben ein Abstraktionsdefizit. Darunter verstehe ich zwei Komponenten:
1. Die zunehmende Unfähigkeit, ein komplexes Problem in seine Bestandteile zu zerlegen, diese einer Lösung zuzuführen und damit das Gesamtproblem zu lösen.
Im Unterricht äußert sich dies in Hochgeschwindigkeitsantworten, die ohne nachzudenken einfach einmal in den Raum geworfen werden. Besonders ärgerlich ist diese Situation dann, wenn ich zehn Minuten vorher eine Theorie – und damit die Lösungsschablone – erklärt habe und die Studenten diese dann auf ein praktisches Beispiel anwenden sollen. In diesem Sommersemester sind so oft wie nie zuvor in den vergangenen 18,5 Jahren diese interaktiven Teile in die Hose gegangen. Entweder kamen Antworten, die davon zeugten, dass die Beteiligten entweder nicht nachgedacht haben, oder die Theorie nicht anwenden konnten bzw. wollten. Damit war kaum einer der Anwesenden in der Lage, das Handwerkszeug (Marketingtheorien) so einzusetzen, dass das Problem in seine Bestandteile zerlegt und damit gelöst werden konnte. Unfreiwillig lustig gestalteten sich auch längere Diskussionen, in denen manche Antworten ein Zombiedasein entwickelten. Alle fünf Minuten kommen die gleichen falschen Antworten wieder.
2. Die zunehmende Unfähigkeit, die strukturellen Bestandteile eines komplexen Problems auf ein ähnlich geartetes Problem zu übertragen.
Auch hier hatte ich mehrere wiederkehrende, gruselige Sekunden. Um es kurz zu machen, drehte ich einige Wiederholungsschleifen zum Ende des Semesters. Faszinierend war, dass anscheinend die Ergebnisse aller Diskussionen aus den vorangegangenen Wochen wie weggeblasen waren. Auch hier gebe es zwei Erklärungen, entweder sind die Diskussionsergebnisse alle in das Kurzzeitgedächtnis gewandert und verpufft; oder es war den Studierenden schlicht und einfach nicht möglich die Struktur auf ein ähnlich geartetes Problem zu übertragen. Letzteres wurde von vielen Teilnehmern in der Klausur eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
In den vergangenen Wochen habe ich erstaunlich viel Feedback in Facebook und Xing bekommen, die eben beschriebene Entwicklung untermauern. Nun stellt sich die Frage, wie dies alles passieren konnte. Da muss man gar nicht so lange suchen, die Antworten findet man in der Bildungspolitik:
- Die Industrie hat geschrien, die Politik hat ohne großes Nachdenken das Geschrei umgesetzt. Irgend einmal in der Vergangenheit hieß es, dass die Deutschen viel zu alt am Ende des Studiums sind; die Deutschen müssen früher das Arbeiten anfangen. Also wurde aus dem G9 ein G8 gemacht, mit dem Ergebnis, dass nicht studierfähige Kinder auf einmal in den Hörsälen sitzen und schlicht und einfach mit einem Hochschulbetrieb (und sei es auch nur eine Fachhochschule) überfordert sind. Die amerikanische Psychologin J. M. Twenge hat in ihrem Buch sehr gut beschrieben, dass die Generationen, die jetzt in die Hörsäle strömen, außerdem auch noch viel unreifer und kindlicher sind als die ganzen Generationen davor. Ein unheilvolle Kombination, ein Jahr schneller mit der Schule fertig und obendrein auch noch unreifer. Kann nicht gut gehen. Jetzt hat die Industrie wieder geschrien „wir bekommen lauter unfertige Persönlichkeiten“ und auf einmal wird wieder auf G9 umgestellt.
- Bei der Umstellung vom G9 auf das G8 ist auch noch ein weiterer großer Fauxpas passiert. Anstatt, dass man den Kindern beibringt, wie sie mit der Fülle an Informationen, die das Internet bietet, umgehen sollen und wie man diese Informationen zielgerichtet zum Problemlösen einsetzt, wird der ganze Stoff mit Überschallgeschwindigkeit durchgehuschelt. Gewissermaßen nach dem Motto: Gut dass wir darüber geredet haben, aber bitte nicht zu tief, es könnte ja Zeit kosten. Die Kinder werden im Großen und Ganzen alleine gelassen und werden mit einem Fußtritt in die Hochschullandschaft entlassen.
- Der Wettbewerb um die höchste Akademikerquote in der EU. Wahrscheinlich werden wir in ein paar Jahren eine Akademikerquote von 100 Prozent haben und dafür 80 Prozent nicht studierfähige Kandidaten im Hörsaal sitzen haben. Was ist so schlimm an einem Handwerksberuf? Eine meiner Kolleginnen hat man so nett nach einer etwas frustrierend den Vorlesung gesagt, dass wir die Hälfte der Anwesenden an einer erfolgreichen, handwerklichen Karriere hindern. Kein weiterer Kommentar dazu.
- Mehr, mehr, mehr! Eine Hochschule und ein Präsident ist nur dann erfolgreich, wenn sich möglichst viele Studierende in den Hörsälen drängen. Unsere Hochschule hat ein Ziel von 10.000+ Studenten. Damit diese erfolgreich einen Bachelor- oder Master-Abschluss zustande bringen, muss ich eben auch einige Augen zudrücken.
Fasst man die drei Elemente der Bildungspolitik zusammen, so wird man feststellen, dass das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist. Kann man was daran ändern? Ich habe in ein paar ruhigen Minuten mal einen Plan für das Wintersemester entwickelt, um den Unterricht an die neuen Gegebenheiten zu adaptieren. Mal sehen was daraus wird, aber jetzt ist es nach dem kurzen Regenguss nur noch 32 Grad draußen und ich gehe zum Laufen. Stay tuned.
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Lieber Herr Zich,
ich schmeiß mich regelhaft weg, wenn ich Ihre Artikel lese. Sehr gut! Bin ich froh, dass unser Vincent eine Ausbildung als Maurer beginnt!
Viel Grüße aus Bernried/Pommersberg, Hans Muhr
Hallo Herr Muhr,
danke für das Feedback. Freut mich, dass Ihnen meine Artikel gefallen, da kann ich gleich beschwingt ins Wochenende starten. Schönes Wochenende, Heiße Grüße ebenso aus der Gemeine Bernried. C. Zich.