Wie Kreise zu Gesichtern werden

Aus Kreisen werden Menschen

Um es kurz zu machen, der Start des Semesters lief im Grunde genommen genauso wie die Vorlesung, die ich im letzten Beitrag beschrieben habe. Keine Kamera, kaum Diskussionsbeiträge, keine Fragen. Mein Schwerpunkt hat jedoch eine ganz andere Form der Prüfungsleistung. Am Ende des Semesters muss keine Klausur geschrieben werden, sondern eine Studienarbeit. Diese Abschlussarbeit ist jedoch keine rein wissenschaftliche Abhandlung mit vielen Fußnoten und langem Literaturverzeichnis. Ganz im Sinne einer „University of Applied Sciences“ liegt der Schwerpunkt auf der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf praxisorientierte Sachverhalte. Ich hatte daher die Möglichkeit, die Aufgaben 3 Teile zu teilen und den Aufwand für die Erstellung der endnotenbildende Maßnahme einigermaßen verträglich auf das ganze Semester zu verteilen. Zu jedem dieser Meilensteine gab es selbstverständlich eine Coachingrunde, die ich analog zu meinen Projektbesprechungen mit meinen ehemaligen Mitarbeitern werden meiner Zeit bei Siemens gestaltete. Damals war ich als Führungskraft dafür verantwortlich, dass meine Mitarbeiter vor den Kunden brillieren und weder sich noch die Firma Siemens blamierten.

Ab diesem Zeitpunkt änderte sich auch ganz dramatisch die Art der Zusammenarbeit. Die Studierenden schalteten die Kameras ein, die Mitarbeit wurde besser und die Stimmung natürlich auch. In einer kleinen Feedbackrunde beklagten sich die Studierenden über die große Menge an Arbeit, die in diesem Semester in einem so kurzen Zeitraum über sie einbrach. Ich werde die Frage einer Studentin nie vergessen: „Ist es im Schwerpunkt immer so anstrengend?“ Nein, ist es normalerweise nicht. Aber ich bin auch von der Situation überrascht worden und so musste ich die Arbeit eines kompletten Semesters in 2/3 der Zeit über die Bühne bringen. Gleiches galt für meine Lehrbeauftragten, die auch einen hervorragenden Job machten. Mir wurde in dieser Feedbackrunde klar, dass ich sowohl für mich als auch für die Studierenden die Komplexität des Projektes falsch eingeschätzt hatte.

Praxis ist leider anstrengender als Theorie

Es ist eben etwas ganz was anderes, ob ich in einer Präsenzveranstaltung junge, unerfahrene, aber engagierten Menschen zum allerersten Mal mit einer knallhart formulierten praktischen Aufgabenstellung konfrontiere und sie im direkten Kontakt durch eine vollkommen neue, herausfordernde Projektsituation lenke oder ob ich eben dies über Microsoft Teams mache. Ich dachte so das eine oder andere Mal: mach es theoretisch, ist einfacher. In einem Unternehmen ist dies kein Problem, denn man hat im Regelfalle Profis auf der anderen Seite setzen, die mit solchen Projekten vertraut sind. Trotzdem haben wir alle in einer gemeinsamen Anstrengung das Semester gut über die Bühne gebracht, hatten viel Spaß miteinander und die Abschlusspräsentation gestern lief hervorragend. Unser Kunde war zufrieden und die Studierenden konnten stolz ihre Ergebnisse präsentieren.

In der oben genannten Feedbackrunde habe ich aber noch etwas sehr interessantes über das Verhalten von Studierenden gelernt, getriggert durch das Statement eines Studenten: „Wir haben ja den Schwerpunkt gewählt und sind bereit, dafür auch viel zu arbeiten.“ Was ist aber mit Fächern, die nicht freiwillig gewählt wurden, sondern zum Standardprogramm gehören? Wie ich in der Vorlesung, die ich in den letzten 2 Beiträgen kurz angerissen habe, feststellte, war es bei ca. 40% der Studierenden nicht weit her mit der Disziplin und Selbstverantwortung. Je näher die Klausurenphase rückte, desto häufiger kam die Frage nach Eingrenzungen, nach Tipps und nach Schwerpunkten in der Klausur. Nicht der Erwerb eines eines fundierten Wissens – wie im Schwerpunkt – steht im Vordergrund, sondern das möglichst einfache Abhaken von unangenehmen Dingen, sprich Prüfungen. Mir hat sich des Öfteren während dieses Corona-Semesters die Frage gestellt, wie diese Studierenden später mal in der Praxis unterwegs sein werden. Werden sie auch bei der ersten kniffligen Aufgabe im Job nach Arbeitserleichterungen schreien? Werden sie sich darüber beschweren, dass sie nicht um fünf Uhr nach Hause gehen können?