Männer, die auf Kreise starren.

Ich legte also los, stellte mich kurz vor und skizzierte den Plan für das Semester. Allerdings sagte ich den Studierenden, dass diese Vorlesung einen expermentellen Charakter hat. Warum? Um eine richtig gute online-Vorlesung aufzusetzen, braucht man zwischen einem dreiviertel Jahr und einem Jahr. Diese Erfahrung habe ich mit meinem VHB-Kurs gesammelt. Aber nach Verkündigung des Shutdowns blieben nur 6 Wochen Zeit, um virtuell etwas auf die Beine zu stellen. 

Die Kreise des Schweigens

Was mich bei der ersten Vorlesung schon stark verwunderte, war die Stille. Keiner fragte, keiner gab ein Lebenszeichen von sich. Dann war der erste Tag zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass aus dem Semester noch etwas werden könne. Die Vorlesungen im Verlauf der nächsten Wochen bestanden darin, dass ich auf neun Kreise (Microsoft Teams, siehe Foto)) starrte und die neun versuchte zu bespassen. Erinnert mich jetzt an den Herrn der Ringe: „die Neun haben Minas Morgul verlassen“. Ein Ring… Ich begann schon an meiner geistigen Gesundheit zu zweifeln und fragte mich, was die Steigerung sein könnte? Mit leeren Stühlen reden, mit Lichtmasten, Hydranten oder meinem Füller?

Ich erkannte im Verlaufe dieser Wochen, dass ich die Grundidee des seminaristischen Unterrichts nicht wirklich in das Internet übertragen konnte. In einer richtigen Vorlesung kann ich ungefähr zwei Drittel der Studierenden im gleichen Zeitraum aktivieren, so dass sie regelmäßig und aktiv am Unterricht teilnehmen. In der virtuellen Version dagegen bestritt ich den Unterricht mit einem Bruchteil der Anwesenden. Aufgrund dieser Erfahrung habe ich mich köstlich über einen Artikel in der SZ amüsiert ( „Der Dozent als Diskussionsleiter“). Es geht – sehr verkürzt zusammengefasst – darum, dass Studierende sich auf eine Vorlesung vorbereiten und der Dozent mit den Anwesenden den Stoff diskutiert und damit vertieft. Der Kernpunkt des Artikels ist dabei folgender: „Die Bereitschaft, selbstständig zu lernen, ist dabei Grundvoraussetzung.“ (SZ vom 26.06.2020, S. 36) Im Geiste habe ich noch eine weitere Voraussetzung ergänzt: Die Bereitschaft, wirklich mitzumachen und nicht nur ein rudimentäres Ein-Satz-Statement über den Chat abzugeben, ist die zweite Grundvoraussetzung. Und wirklich konzentriert und fokussiert dabei zu bleiben, die dritte.

Es ist eben für den Dozenten bei einer echten, großen Vorlesung leichter, den Überblick über die stillen Zeitgenossen zu haben (10 Reihe, die 4 in der Mitte) und mit einfachen Mitteln festzustellen, wer mit mit seinem Smartphone in die Welt der virtuellen Freunde abgetaucht ist. Ein freundlicher Hinweis, eine gezielte Frage – ohne die Kandidaten zu blamieren – und die Sache funktioniert. Ausklinken geht nur bedingt. Selbst geistige Abwesenheit erkennt man relativ schnell am Gesichtsausdruck.