Es ist 8:49 Uhr und ich habe schon meinen ersten Horrortrip hinter mir.

Hochschule 4.0: wo geht die Reise hin?Ja, nach meiner ersten Stunde Klausuren korrigieren habe ich einen Horrortrip hinter mir. Zwei Drittel einer Marketingklausur habe ich bereits korrigiert und ich habe mich die ganze Zeit zwischen Unverständnis, Ärger und Verwunderung bewegt. Warum? Dieses Sommersemester hat sich eine Entwicklung fortgesetzt, die mir die eine oder andere nachdenkliche Minute beschert hat. Diese kalte Dusche ist, nach den tollen Erfahrungen mit meinem Schwerpunkt, ganz besonders unangenehm. Aber jetzt fange ich einfach mal von vorne an.

Ich habe eine relativ einfache Überzeugung: wer das Label Akademiker (in einem ersten Rutsch verbunden mit einem Bachelor, in einer zweiten Runde mit einem Master) haben möchte, der muss in der Lage sein, komplexe Probleme zu lösen. Wenn ich meinem Gegenüber jeden Schritt genau darlegen muss, dann habe ich einen Sachbearbeiter vor mir, der entweder nicht in der Lage oder nicht willens ist, selbstständig sein Hirn einzusetzen. In meinen beiden Führungspositionen während meiner Zeit bei Siemens, da hatte ich bis auf ein einziges Mal Glück, denn ich habe entweder leistungsfähige und leistungswillige Mitarbeiter eingestellt und/oder übernommen. Einmal war ich gezwungen, einen „Null-Leister“ aus meiner Abteilung zu entfernen, seither habe ich eine Abneigung gegen diese Sorte Mitarbeiter (wenig denken, hohes Anspruchsverhalten) entwickelt. Aber ich helfe jedem gerne – guter Wille vorausgesetzt – auf ein sehr gutes Niveau zu kommen. So war es früher bei Siemens, so ist es seit 18 Jahren im Unterricht.

Zurück zum Unterricht, er besteht vorrangig aus Diskussionen, um theoriebasiertes Transferwissen zu erzeugen. Jeder soll die Chance haben, das richtige Wissen in vernünftigen Portionen zu erwerben und gezielt einzusetzen. Und damit hat jeder die Chance, gut zu werden. Er/sie muss nur kommen und gut werden wollen. Dies erzähle ich auch am Anfang eines jeden Semesters bei jedem Kurs, immer verbunden mit dem Hinweis, dass ich die zugrunde liegende Literatur voraussetze und jedem die Möglichkeit biete, sich in den Diskussionen im Unterricht sukzessive über das Semester hinweg an ein klausuradäquates Komplexitätsniveau heranzutasten. Ich beginne mit der Klausurvorbereitung ab dem ersten Tag der Vorlesung. Dies hat in den letzten Jahren immer hervorragend geklappt, die Anwesenheitsquote in den Vorlesungen bewegte sich bei ca. 80 % der Studierenden und im Regelfalle waren die Diskussionen intensiv und zufriedenstellend. Die Klausuren hatten eine vertretbare Durchfallquote bei einem vernünftigen Niveau.

Im Wintersemester 2017/2018 änderte sich dies jedoch und im Sommersemester setzte sich diese Entwicklung ungebremst fort. Die Anwesenheitsquote betrug nur noch ein Drittel bis maximal 50 %. Wenn man die Diskussionen als zäh bezeichnen würde, wäre es immer noch eine viel zu positive Übertreibung. Ich stellte eine Frage und alle schauten mich mit großen Augen an. Wenn alle meine Kollegen gesagt hätten, dass es bei Ihnen in den Vorlesungen anders wäre, hätte ich mir ernsthaft Gedanken macht. Aber deren Erfahrungen gingen in dieselbe Richtung. Wir wunderten uns alle darüber, was eigentlich mit den Studierenden los ist. Ich liefere in ein paar Beiträgen jetzt eine persönliche – empirisch nicht erhobene und statistisch nicht signifikante – Interpretation, die ich im Kollegenkreis schon diskutiert habe und zumindest von dieser Seite Zustimmung erhalten habe. Meiner Meinung nach haben die Studierenden drei große Probleme: einen Ernsthaftigkeitsverlust, ein Priorisierungsproblem und ein Abstraktionsdefizit.

Damit werde ich mich in den nächsten Tagen beschäftigen, jetzt vertiefte ich mich in den nächsten Horrortrip, d. h ich korrigiere das letzte Drittel der Klausur. Stay tuned.

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